Skialpinismus in der Mieminger Kette
Reinhold Scherer
Es gibt sie noch, die wilden Hunde, die vor keiner noch so steilen Skiabfahrt zurückschrecken. Doch während im deutschen Sprachraum skialpinistische Heldentaten oder auch Geheimtipps vielfach gut behütet oder höchstens per Mundpropaganda im Eingeweihtenkreis die Runde machten, stößt nun ein neues Werk vor und füllt eine Lücke satt und mit einer geballten Ladung interessanter Informationen. Der Innsbrucker Sportkletterguru, Sportwissenschafter und staatlich geprüfte Berg- und Skiführer Reinhold Scherer hat das wilde Kalkmassiv der vor seiner Haustüre liegenden Mieminger Kette in Tirol als Spielplatz für abenteuerliche Freeskier erkundet und seine Touren akribisch dokumentiert.
Ein Tourenführer über extremste Steilwandabfahrten wirkt auf den ersten Blick zwar etwas merkwürdig, als sich ohnedies nur wenige und absolute Spezialisten damit beschäftigen, die sich über Jahre hinweg langsam an diese Spielform des Alpinismus herangetastet haben und sich ihre Routen in der Regel lieber selbst suchen - und finden - wollen. Anfänger oder Hobbytourengeher tun sowieso gut daran, sich nicht durch das Werk verlocken zu lassen und den Beschreibungen ohne Erfahrung zu folgen wie einem "normalen" Skitourenführer. Die Touren verlaufen vielfach und ausdrücklich beschrieben in Lawinenstrichen oder sind selbst bei guten Verhältnissen nicht ungefährlich.
Aber wie der Autor selbst betont, handelt es sich nicht um einen Freerideführer oder gar einen Skitourenführer im klassischen Sinne, sondern vielmehr um eine Dokumentation der durchgeführten skialpinistischen Unternehmungen. Es gelingt dem Autor in diesem Sinne, einen Beitrag zu leisten, den Stellenwert der faszinierenden Wintersportart "Skialpinismus" in ein weniger mystisches Licht zu rücken. Seine unverblümt direkten Beschreibungen, die zahlreichen Bergansichten mit den eingezeichneten Linien und die tollen Aufnahmen von den Befahrungen lassen die Faszination und den Nervenkitzel dieses Sport spürbar werden.
In jedem Fall sind auch die chronologisch zusammengestellten und dokumentierten Steilabfahrten in Tirol und die fachlichen Informationen wie die Schwierigkeit der Schwierigkeitsbewertungen im Skialpinismus sehr interessant. Das Buch ist letztlich eine Zusammenfassung dessen, was in den steilen Wänden der Mieminger Kette mit Skiern heute so getrieben wird, wie es in der französischen Alpin- und Führerliteratur ja schon seit vielen Jahr(zehnt)en angeboten ist. Und die Tiroler Steilwandabfahrten stehen den berühmten Linien in den Westalpen - abgesehen von der Höhe - offensichtlich um nichts nach.
Das mit spürbarer Liebe zu den heimatlichen Bergen und zum Skialpinismus verfasste Buch zeigt letztlich, dass die großen Abenteuer direkt vor der Haustüre liegen können, zumindest wenn man - wie der Autor - das Glück hat, ein Tiroler zu sein. Unter diesem Gesichtspunkt ist das Buch in jedem Fall eine spannende Unterhaltung und eine sehr informative und ansprechend gestaltete Übersicht über die ebenso umtriebigen wie extremen skialpinistischen Unternehmungen des Autors und seiner Tourenpartner abseits der viel begangenen Routen.